Gegenwärtig ist viel von einem grundlegenden Wandel der (Vorstellungen von der) Liebe in der westlichen Welt die Rede. Schon die Anbahnung der Liebesbeziehungen verändert ihr Gesicht: Immer häufiger findet sie in den sozialen Medien statt. Ist die Beziehung einmal konstituiert, kann sie „offen“ oder „treuebasiert“, zusammen-lebend oder getrennt-lebend, unverheiratet oder verheiratet geführt werden. Der eine geht von lebenslangem Zusammensein aus, die andere von einer Lebensabschnittspartnerschaft. Was in der Beziehung stattfinden soll, wird ebenso unterschiedlich gesehen: Identitätsfindung und -stabilisierung durch vollständiges Verstehen des Partners, oder nur wechselseitige Unterstützung bei der Bewältigung des praktischen Lebens zwischen Sorgen und Vergnügungen? Und: Soll Nachwuchs gezeugt und/oder aufgezogen werden?

Weitere Faktoren verkomplizieren die Situation. Angesichts der hohen Anforderungen an die berufliche Mobilität können aus Lebensgemeinschaften schnell Pendlerbeziehungen werden – und umgekehrt. Vermehrte Migration sorgt dafür, dass Partnerschaftsmodelle aus anderen Kulturen als zusätzliche Optionen im Raum stehen; ihre Verknüpfung mit westlichen Modellen kann zu interessanten Hybridformen führen. Mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften verbindet sich ebenfalls häufig die Erwartung, sie stellten Alternativen zu den gängigen Liebessemantiken bereit. Wie wirkt sich Transsexualität aus? Gibt es neue Regeln für die Liebe im Alter? Wie verändert sich generell die ‚Aufgabenverteilung‘ im Zusammenspiel von Liebe und Freundschaft? Derweil inszenieren die Medien permanent Liebesgeschichten, die als Leitbilder und/ oder als diskussionswürdige Angebote auf die Gesellschaft zurückwirken.

Im Ergebnis lässt sich eine extreme Pluralisierung der ‚lebbaren‘ Modelle für Liebe und Partnerschaft konstatieren. Dem Einzelnen vermittelt sich der Eindruck, er könne aus einem ganzen ‚Pool‘ von Angeboten auswählen. Festlegungen, die aus Milieuzugehörigkeiten, familiären Zwängen etc. hervorgehen, schwächen sich immer weiter ab. Im Grunde muss das Beziehungsmodell nur von den beteiligten Partnern ausgehandelt werden.

Diese ‚neue Unübersichtlichkeit‘ fordert die wissenschaftliche Analyse heraus. Welche Folgen hat das hohe Maß an Wählbarkeit für Individuum und Gesellschaft? Wie genau sind die Modelle beschaffen, die auf dem Markt zirkulieren? Wo sind tatsächlich Innovationen zu beobachten, wo entsteht Neues durch die Rekombination von Bekanntem, wo lässt sich das vermeintlich Neue gänzlich auf Altes zurückführen? Um solche Fragen beantworten zu können, ist die genaue Kenntnis der historischen Entwicklung der Liebessemantik nötig. Die aktuellen Konzepte werden unzutreffend beurteilt, wenn der Analyse die historischeTiefenschärfe fehlt. Deshalb sollen ‚Tiefenbohrungen‘ bis zu Empfindsamkeit und Romantik, ja bis ins Barockzeitalter erfolgen.

Wir werden im Seminar die literaturwissenschaftliche Forschung zur Liebe zur Kenntnis nehmen und uns gemeinsam auf die Teilnahme an der Tagung „Liebeserfindungen, Liebesempfindungen. Semantiken der Liebe zwischen Kontinuität und Wandel – vom Barock bis zur Gegenwart“ am 21. und 22. September vorbereiten. Gleichzeitig erhalten Sie Einblick in diese besondere Form der Wissenschaftskommunikation, auch indem Sie erfahren, wie eine solche Konferenz organisiert wird. Zudem wird es ein Nachwuchspanel geben, bei dem einige Studierende der UDE ihre aktuellen Forschungsarbeiten (BA- oder MA-Arbeiten) vorstellen können.

Das Seminar richtet sich auch in besonderem Maße, aber nicht vornehmlich – Quereinsteiger erwünscht –, an Studierende, die in einem der letzten Semester ein Liebessemantik-Seminar bei mir besucht haben.  


ePortfolio: No